Liebe Twin,
danke, dass du an mich denkst. Das berührt mich wirklich sehr.
Ich versuche zu erzählen, wie es mir gerade geht, aber das ist nicht so einfach.
Mein Mann ist vor 6 Wochen in seine neue Wohnung gezogen. Er hat seine Dokumente, seinen Laptop, seinen Kleiderschrank und die Kleidung, die in dem Schrank war, mitgenommen bzw. von dem Umzugsunternehmen mitnehmen lassen.
Alles andere hat er einfach dagelassen: sein Bettzeug, Geschirr, Bilder, viele Schuhe, Möbel, Pflanzen, Deko, Fotoalben, Werkzeug, Gartenmöbel, Pflegeprodukte, TV, Erinnerungsstücke, usw. Als er weg war, war es so, als wäre er nur in Urlaub gefahren und würde gleich wiederkommen. Er wollte zunächst den Hausschlüssel nicht abgeben, weil er meinte, dass er dann "von der Welt ganz abgeschnitten" sei.
Mittlerweile hat er ihn mir per Post geschickt, weil ich ihn darum gebeten hatte. Wir kommunizieren aber ansonsten kaum miteinander. Er wollte seine Ruhe und das respektiere ich. Für mich ist es darüberhinaus schon herausfordernd genug, dass ich all seine Sache zusammenpacken und in den Keller stellen muss. Ich weiß nicht, warum er alles hier gelassen hat, selbst Dinge, die ihm früher viel bedeutet haben. Ich weiß auch nicht, ob er sie irgendwann abholen wird. Oder ob er wirklich ein neues Leben beginnt, wie er gesagt hat.
Seine Eltern müssen die neue Wohnung komplett neu eingerichtet haben, nicht nur neue Möbel, Teppich, TV, sondern auch Dinge wie Handtücher, Fön, Töpfe, usw. Einfach alles. Alle Kleinteile, die bei uns noch überall in den Schubladen, Schränken verteilt waren, habe ich zusammengesucht und in kleinere Pakete gepackt, die ich ihm eventuell zuschicke. Sie stehen hier noch herum. Ich habe auch begonnen, die größeren Möbelstücke in den Keller zu räumen, aber es ist eine riesige Aufgabe für mich. Ich habe das Gefühl, dass ich es gar nicht bewältigen kann.
Obwohl die vergangenen Monate sehr schwierig waren und ein Zusammenleben quasi nicht mehr möglich, bin ich nicht erleichtert. Bei mir überwiegt die Trauer. Ich trauere nach wie vor sehr um meinen Mann. Das tue ich ja nicht erst seit seinem Auszug, sondern schon seit Längerem. Sein Auszug hat daran nichts geändert. Er war ja schon nicht mehr da, bevor er ausgezogen ist. Ich überlege immer wieder, wann genau er gegangen ist. Ich versuche mich daran zu erinnern, wann der Augenblick, der Tag oder die Woche war, als er verschwunden ist. Es muss ja einen Zeitpunkt gegeben haben. Diesen Moment muss es doch auch bei Menschen geben, die z. B. an Alzheimer oder Demenz erkranken. Da berichten Angehörige doch auch, dass sich z. B. der Partner so verändert hat, dass er nicht mehr derjenige ist, der er früher mal war. Ich frage mich, ob es ein bestimmtes Datum oder einen Zeitraum gibt, wo man quasi verschwindet und sein altes Ich zurücklässt. So wie mein Mann jetzt sein altes Leben einfach zurückgelassen hat und verschwunden ist.
Ich weiß, dass man das nicht tun soll, aber ich habe mir heute alte Fotos angeschaut. Besonders solche Fotos, auf denen man die Augen meines Mannes gut sieht. Ich habe mir ein relativ aktuelles Foto und Fotos aus den letzten Monaten und Jahren angeschaut und miteinander verglichen. Ich wollte herausfinden, ob man auf den Fotos einen Unterschied erkennen kann, so wie ich ihn bei meinem Mann bemerkt habe. Das Ergebnis war so krass, so schockierend, dass ich richtig losgeheult habe. Man sieht es auf den Fotos auch: in seinen Augen auf den Fotos.
Ich habe das aktuelle und eines der älteren Fotos sogar meiner Ma gezeigt, um sicher zu gehen, und gefragt, was sie sieht. Sie hat die Fotos betrachtet und war ganz betroffen. Sie meinte, das seien zwei verschiedene Menschen.
Ich habe lange darüber nachgedacht und glaube, dass es die große OP Anfang des Jahres war. Danach ist er nicht mehr derselbe Mensch geworden, den ich davor kannte. Ich habe lange überlegt, ob es nach der OP noch einmal einen Augenblick, ein Gespräch oder eine Situation gab, in der es dieses Gefühl des gegenseitigen Verstehens, der gegenseitigen Vertrautheit oder des einvernehmlichen Lächelns gab. So wie es früher viele Momente davon gab. Aber das gab es seit der OP nicht mehr.
Wahrscheinlich ist es egal, ob ich es an einem bestimmten Datum festmachen kann oder nicht. In jedem Fall aber ist er eines Tages einfach verschwunden und nicht wieder zurückgekehrt. Es fühlt sich tatsächlich an, als sei er gestorben. Ich habe aufgehört, auf ihn wütend zu sein oder mich über sein merkwürdiges Verhalten zu ärgern oder es zu hinterfragen. Das macht halt keinen Sinn. Es gibt auf viele Fragen keine Antworten mehr. Ich versuche meinen Alltag zu bewältigen und mein Leben neu zu orientieren und mich auf die Kinder zu konzentrieren. Aber ich bin manchmal auch sehr, sehr traurig und habe oft große Mühe, alles zu begreifen.