
- Dabei
- 12 Aug 2008
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Die tote Frau
Erzählung von
Hans Werner
Am Himmel hingen weißgraue Wolkenfahnen. Nur an einer milchigen Stelle konnte man eine ferne Sonne erahnen. Der Wind kam bissig von Osten und schnitt Daniel Wortlieb in Nase und Augen. Er hatte seine dunkelblaue Schirmmütze aus dem Schrank geholt und sie fest über den Kopf gezogen. Seine olivgrüne Pelzjacke hatte er von oben bis unten zugeknöpft und sie umhüllte ihn warm und dicht.
In der Seele war ihm kalt. Erst vor wenigen Tagen war seine Frau gestorben. Ein böser Krebs hatte in ihrem Körper gewuchert und nach einem langen mutigen Kampf gegen diese Krankheit war sie ihr schließlich erlegen. Nun lag sie draußen auf dem Friedhof unter einem frisch aufgeschichteten Grabhügel. Noch duftete die Erde und die Kranzblumen leuchteten in frischen Farben. Nächtlicher Regen hatte sie angefeuchtet und nun glänzten sie wie seidiger Samt.
„Meine liebe Elfriede“, sagte Daniel, „verzeih, dass ich nicht lieber zu dir gewesen bin. Ich weiß, ich habe Dich vernachlässigt. Wie viele Blumen habe ich dir nicht geschenkt! Nun blühen sie üppig auf deinem Grab. Die Stunden ohne dich schmecken bitter wie Essig.“ Daniel wischte sich einige Tränen aus verrunzelten Augenwinkeln. Sein Taschentuch war etwas bräunlich, weil er leidenschaftlich dem Schnupfen frönte. „Immer habe ich gemeint, ich sei im Leben zu kurz gekommen, und konnte nicht ermessen, wie unendlich groß mein Reichtum war, den ich in dir besaß. Nun bin ich allein und fühle mich als wahrhaft ärmster Mensch auf dieser Welt. Bitte, Elfriede, hilf mir. Hilf mir über diese Gedanken hinweg. Verlass mich nicht. Bleibe bei mir.“
So ähnlich sprach Daniel zu seiner frisch beerdigten Frau und der bissige Wind konnte ihn nicht anfechten. Manchmal flog ein großer bunter Vogel über die Friedhofsumzäunung, vielleicht ein Kernbeißer, der irgendwelche versteckten Haselnüsse dem Eichhörnchen abjagte. Plötzlich flog ein prächtiger Eichelhäher nur einige Meter über ihn hinweg. Von diesen beiden Vögeln fühlte sich Daniel getroffen. Selbst hatte er sie nie gekannt, bis ihn Elfriede in Garten und Feldern auf sie hinwies und ihm deren Namen sagte. Deutlich fühlte er, dass es diese Vögel für ihn überhaupt nicht gegeben hätte, hätte nicht ein liebender Mund sie ihm genannt.
„Ja, das bist du, Elfriede. Jene Vögel mahnen mich an dich. Ob du wohl auf ebenso leichten Schwingen durch geheime Sphären fliegst wie diese Vögel, deine Lieblinge? Immer sollen sie mich künftig an dich erinnern.“
Danach wandte er sich zum Ausgang des Friedhofs, öffnete die knarrende Eisenpforte und wischte sich den feuchten Rost von der Hand. In übermäßigem Tempo fuhr auf der Straße ein Auto an ihm vorbei. Wie er ihm nachsah, erkannte er im Fahrer seinen früheren Schüler Florian, der ihm immer großen Kummer bereitet hatte. Doch da kamen ihm plötzlich die Worte wieder in Sinn, mit denen dieser schlitzohrige Kerl ihn in der Schülerzeitschrift spöttisch beschrieben hatte. „Wortlieb ist ein Stehaufmännchen, eine wahre Gummipuppe. Machen ihn seine Rabauken zur Schnecke, dann steht er zur kommenden Stunde augenblicklich wieder auf.“ Da überflutete Daniel plötzlich eine warme Welle von Dankbarkeit. Er dankte diesem Florian, aber noch mehr dankte er seiner Elfriede, von der er fest glaubte, dass sie ihm die Erinnerung an Florian eingegeben hatte.
Zu Hause öffnete er seinen Computer. In dem Literaturforum, in dem er als schreibender Stammgast verkehrte, suchte er gewohnheitsmäßig Texte, Gedichte und Erzählungen, die er beim Lesen auf sich wirken ließ. Unbewusst hoffte er, die Verstorbene könnte ihm zufällig Trostworte zuführen. Eigentlich lachte er innerlich über diesen sentimentalen Einfall. Aber er schlug diese ironische Stimme in den Wind. Er wollte den zufälligen Eingebungen nicht im Wege stehen. Ihm war, als sei sein Inneres wie eine semipermeable Wand – plötzlich fiel ihm der Ausdruck aus dem früheren Biologieunterricht ein –, welche übersinnliche Botschaften durchlassen könnte. Und wie er in sich diesem Gedanken voller Kraft nachhing, fiel sein Blick plötzlich auf einen Titel „Worte aus dem Grab“.
Wie vom Blitz getroffen, starrte er diesen Titel an. Fast scheute er sich, den Link zu öffnen, seine Finger zitterten, aber in ihrem Zittern hatten sie unabsichtlich die Maustaste gedrückt. Und nun flimmerten ihm folgende Zeilen vor den Augen.
Er las und flüsterte die Worte in sich hinein, er erbebte vor Erregung und Ergriffenheit. So nah war ihm Elfriede, seine verstorbene Frau, die er über alles geliebt hatte, ohne es zu wissen, ohne es zu ahnen! Dann ging er in sein Zimmer und entkleidete sich. Er richtete sich zur Nachtruhe. Seit vielen Jahren schon hatten sie getrennte Zimmer zum Schlafen. Bitterer Groll hatte sich deshalb in ihm angestaut. Doch nun war aller Groll verflogen. Er hüllte sich in die Decken und fühlte an sich die junge Elfriede, wie sie in den ersten Jahren ihrer jungen Ehe zu ihm schlüpfte und zu ihm lieb war. Und er richtete zu Gott ein Gebet, scheinbar so widersinnig, dass jeder Geistliche entrüstet gewesen wäre, der es gehört hätte. „Gott“, so sprach er in sich hinein, „ich danke dir innig dafür, dass ich nun eine tote Frau habe. Ich danke Dir, dass ich sie jetzt mehr habe als zu jeder früheren Zeit. Gib ihr ein gutes Plätzchen, dort bei Dir, in jenem Reich, das kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat. Und leite und führe meine Seele immer zu ihr hin.“
Erzählung von
Hans Werner
Am Himmel hingen weißgraue Wolkenfahnen. Nur an einer milchigen Stelle konnte man eine ferne Sonne erahnen. Der Wind kam bissig von Osten und schnitt Daniel Wortlieb in Nase und Augen. Er hatte seine dunkelblaue Schirmmütze aus dem Schrank geholt und sie fest über den Kopf gezogen. Seine olivgrüne Pelzjacke hatte er von oben bis unten zugeknöpft und sie umhüllte ihn warm und dicht.
In der Seele war ihm kalt. Erst vor wenigen Tagen war seine Frau gestorben. Ein böser Krebs hatte in ihrem Körper gewuchert und nach einem langen mutigen Kampf gegen diese Krankheit war sie ihr schließlich erlegen. Nun lag sie draußen auf dem Friedhof unter einem frisch aufgeschichteten Grabhügel. Noch duftete die Erde und die Kranzblumen leuchteten in frischen Farben. Nächtlicher Regen hatte sie angefeuchtet und nun glänzten sie wie seidiger Samt.
„Meine liebe Elfriede“, sagte Daniel, „verzeih, dass ich nicht lieber zu dir gewesen bin. Ich weiß, ich habe Dich vernachlässigt. Wie viele Blumen habe ich dir nicht geschenkt! Nun blühen sie üppig auf deinem Grab. Die Stunden ohne dich schmecken bitter wie Essig.“ Daniel wischte sich einige Tränen aus verrunzelten Augenwinkeln. Sein Taschentuch war etwas bräunlich, weil er leidenschaftlich dem Schnupfen frönte. „Immer habe ich gemeint, ich sei im Leben zu kurz gekommen, und konnte nicht ermessen, wie unendlich groß mein Reichtum war, den ich in dir besaß. Nun bin ich allein und fühle mich als wahrhaft ärmster Mensch auf dieser Welt. Bitte, Elfriede, hilf mir. Hilf mir über diese Gedanken hinweg. Verlass mich nicht. Bleibe bei mir.“
So ähnlich sprach Daniel zu seiner frisch beerdigten Frau und der bissige Wind konnte ihn nicht anfechten. Manchmal flog ein großer bunter Vogel über die Friedhofsumzäunung, vielleicht ein Kernbeißer, der irgendwelche versteckten Haselnüsse dem Eichhörnchen abjagte. Plötzlich flog ein prächtiger Eichelhäher nur einige Meter über ihn hinweg. Von diesen beiden Vögeln fühlte sich Daniel getroffen. Selbst hatte er sie nie gekannt, bis ihn Elfriede in Garten und Feldern auf sie hinwies und ihm deren Namen sagte. Deutlich fühlte er, dass es diese Vögel für ihn überhaupt nicht gegeben hätte, hätte nicht ein liebender Mund sie ihm genannt.
„Ja, das bist du, Elfriede. Jene Vögel mahnen mich an dich. Ob du wohl auf ebenso leichten Schwingen durch geheime Sphären fliegst wie diese Vögel, deine Lieblinge? Immer sollen sie mich künftig an dich erinnern.“
Danach wandte er sich zum Ausgang des Friedhofs, öffnete die knarrende Eisenpforte und wischte sich den feuchten Rost von der Hand. In übermäßigem Tempo fuhr auf der Straße ein Auto an ihm vorbei. Wie er ihm nachsah, erkannte er im Fahrer seinen früheren Schüler Florian, der ihm immer großen Kummer bereitet hatte. Doch da kamen ihm plötzlich die Worte wieder in Sinn, mit denen dieser schlitzohrige Kerl ihn in der Schülerzeitschrift spöttisch beschrieben hatte. „Wortlieb ist ein Stehaufmännchen, eine wahre Gummipuppe. Machen ihn seine Rabauken zur Schnecke, dann steht er zur kommenden Stunde augenblicklich wieder auf.“ Da überflutete Daniel plötzlich eine warme Welle von Dankbarkeit. Er dankte diesem Florian, aber noch mehr dankte er seiner Elfriede, von der er fest glaubte, dass sie ihm die Erinnerung an Florian eingegeben hatte.
Zu Hause öffnete er seinen Computer. In dem Literaturforum, in dem er als schreibender Stammgast verkehrte, suchte er gewohnheitsmäßig Texte, Gedichte und Erzählungen, die er beim Lesen auf sich wirken ließ. Unbewusst hoffte er, die Verstorbene könnte ihm zufällig Trostworte zuführen. Eigentlich lachte er innerlich über diesen sentimentalen Einfall. Aber er schlug diese ironische Stimme in den Wind. Er wollte den zufälligen Eingebungen nicht im Wege stehen. Ihm war, als sei sein Inneres wie eine semipermeable Wand – plötzlich fiel ihm der Ausdruck aus dem früheren Biologieunterricht ein –, welche übersinnliche Botschaften durchlassen könnte. Und wie er in sich diesem Gedanken voller Kraft nachhing, fiel sein Blick plötzlich auf einen Titel „Worte aus dem Grab“.
Wie vom Blitz getroffen, starrte er diesen Titel an. Fast scheute er sich, den Link zu öffnen, seine Finger zitterten, aber in ihrem Zittern hatten sie unabsichtlich die Maustaste gedrückt. Und nun flimmerten ihm folgende Zeilen vor den Augen.
Da ich tot bin
bin ich bei dir
so eng
als ob ich lebte
mein Haus
ist deine Seele
wenn du fühlst
bin ich es, die fühlt
wenn du weinst
bin ich es, die weint
wenn du lachst,
lache ich in dir
hör in dich hinein
und du hörst
meine Stimme
so eng
als ob ich lebte
mein Haus
ist deine Seele
wenn du fühlst
bin ich es, die fühlt
wenn du weinst
bin ich es, die weint
wenn du lachst,
lache ich in dir
hör in dich hinein
und du hörst
meine Stimme
Er las und flüsterte die Worte in sich hinein, er erbebte vor Erregung und Ergriffenheit. So nah war ihm Elfriede, seine verstorbene Frau, die er über alles geliebt hatte, ohne es zu wissen, ohne es zu ahnen! Dann ging er in sein Zimmer und entkleidete sich. Er richtete sich zur Nachtruhe. Seit vielen Jahren schon hatten sie getrennte Zimmer zum Schlafen. Bitterer Groll hatte sich deshalb in ihm angestaut. Doch nun war aller Groll verflogen. Er hüllte sich in die Decken und fühlte an sich die junge Elfriede, wie sie in den ersten Jahren ihrer jungen Ehe zu ihm schlüpfte und zu ihm lieb war. Und er richtete zu Gott ein Gebet, scheinbar so widersinnig, dass jeder Geistliche entrüstet gewesen wäre, der es gehört hätte. „Gott“, so sprach er in sich hinein, „ich danke dir innig dafür, dass ich nun eine tote Frau habe. Ich danke Dir, dass ich sie jetzt mehr habe als zu jeder früheren Zeit. Gib ihr ein gutes Plätzchen, dort bei Dir, in jenem Reich, das kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat. Und leite und führe meine Seele immer zu ihr hin.“