Lieber Chrissel,
ich freu mich sehr über Deine Zeilen. Sie helfen mir sehr. Die Auseinandersetzung mit dem Thema und Fragen helfen mir. Darum hilfst Du mir auch nicht "bedingt" sondern sehr gut.
Du hast Recht damit, dass das Selbstwertgefühl durch Gewalterfahrungen extrem leidet. Das allein ist schon ne größere schlimmere Sache, aber es gibt noch mehr. Zum Beispiel das Sicherheitsgefühl. Ich finde auch, einen gewissen Teil des Selbstverständnisses, besser gesagt der Selbstverständlichkeit der Existenz, dieser Welt so verloren zu haben. Allein, dass man über Gewalterfahrungen nachdenken muss,... man "verliert die Unbetroffenheit" sozusagen. Ach was weiß ich. Es gibt so vieles und ich werd mich wohl damit genauer nochmal beschäftigen müssen, um das ganze zu verarbeiten, denn bisher war meine Strategie hauptsächlich Verdrängen. Im Verdrängen bin ich sehr gut. Ich kann so schön verdrängen und aushalten und könnte auch noch so weiter machen - vom psychischen her betrachtet. Ich bin da inzwischen so trainiert und stark genug, dass ich kein Problem damit hätte, weiterhin zu verdrängen und darüber einfach hinweg zu sehen. Das Problem ist, dass ich mittlerweile psychosomatische Symptome entwickelt habe, die für meinen Geschmack weit über "nur" Schlafstörungen hinaus gehen. Und das war und ist kein Zustand mehr, darum will ich hinsehen und verarbeiten und nicht mehr nur verdrängen. Ich will nicht krank sein, ich will gesund sein. Zwei der akut belastendsten Symptome haben sich auch schon verbessert, seit mehr als ner Woche ganz verflüchtigt. Aber ich möchte bitte nicht, dass die wiederkommen. Beide waren unangenehm und auch irgendwie beängstigend. Ich hoffe, die nie mehr erleben zu müssen, hab aber das Gefühl, dass es eben noch jederzeit wieder losgehen könnte. Darum will ich weiter machen und da jetzt durch. Sozusagen ein für alle Mal. Darum dieser Thread, der wohl ne Zeit lang existieren wird. Und ja, mit Hintergedanken existiert der auch nicht nur für mich, sondern auch für spontan schon mal ne Hand voll weiterer User des LH, die ich benennnen könnte, mit ähnlichen Problemen und auch für Gäste, die daran interessiert sind. Ich hoffe also ausdrücklich auf Beteiligung und freu mich daher besonders über Deine Zeilen.
Zu Deinen Fragen:
ich hab das so verstanden, dass ich um ALLES trauern soll/muss, was ich dadurch verloren habe. Natürlich legt die Therapeutin als Psychologin da besonders wert auf das, was seelisch/psychisch gelitten hat, aber eben auch alles andere. Alles, was jetzt anders ist und vorher nicht so war. Alles, worüber ich traurig werde, wenn ich mir überlege, dass ich das eben durch diese Erfahrungen nicht mehr hatte oder habe oder nicht mehr so wie zuvor habe. Natürlich hab ich da schon mal in mich hinein gehört, das macht man fast zwangsläufig. Aber wenn die Hauptstrategie Verdrängung ist, dann eben auch nur sehr kurz und oberflächlich. Man versucht, möglichst wenig wahrzunehmen, denn hinzusehen und zu realisieren ist anstrengend und schmerzt. Darum muss da jeder sein Tempo und seinen Weg finden. Wenn man nicht wie ich jetzt unter psychosomatischen Schwierigkeiten leidet, kann es durchaus auch ok und angebracht sein, nicht wahrzunehmen und zu verdrängen, nur halt nicht auf ewig und unbestimmt. Meine Therapeutin sagte, dass unsere Psyche da sehr großzügig mit uns ist und sich darauf einlässt, etwas wegzupacken bis zur Verarbeitung und wir sowas quasi mit uns selbst abmachen können. Aber es ginge nicht auf unbestimmt und für immer . Wenn es psychosomatische Beschwerden gibt, ist es quasi höchste Eisenbahn, sich eben doch damit auseinander zu setzen um zu verarbeiten und diese Erfahrungen "zu intergrieren" wie es immer so schön heißt. Und nun demonstrier ich mal, wie schön meine Therapie schon wirkt...
Dieses "integrieren" der traumatischen Erfahrungen bedeutet nichts anderes, als dass ich mein ganzes Leben auf den Kopf stellen und neu sortieren und einordnen muss. Letztlich wird sich dadurch für mich alles ändern. Es hat sich schon alles geändert. Aus dem unbeschwerten Menschen, der ich mal war, wurde der, der mit diesen Erlebnissen konfrontiert wurde und geschockt wurde, der, der dann Mittel und Wege gefunden hat. damit irgendwie umzugehen - bei mir ja eben hauptsächlich durch verdrängen und nicht mehr wahrnehmen bestimmter Dinge, bei anderen können das andere Wege sein - und nun dann Mittel und Wege finden soll, aus dem Menschen von "vorher" und dem Menschen von "jetzt" den von "nachher" zu machen.
Ich ärgere mich jetzt darüber, dass ich das machen muss und spüre zum ersten Mal sowas wie Wut in Zusammenhang mit diesen Erfahrungen. Weil es mich gelinde gesagt ankotzt, dass ich das machen muss, dass ich diese Symptome hatte, dass ich sozusagen krank wurde, nur weil irgend so ein Idiot bzw. auf mein Leben bezogen ja mehrere, sich in manchen Momenten nicht im Griff hatten und an mir abreagieren/ausleben mussten. Was kann ich denn dafür? Und wieso bin ich jetzt damit gestraft, vor so einem Berg und so einer Aufgabe zu stehen? Das ärgert mich und macht mich wütend. Bisher war ich nicht wütend. Ich hab immer gesagt, dass Wut auch nichts bringt und war allgemein dann nicht nur auf meine Täter sondern auch überhaupt nicht mehr wütend. Ich war schon so lange nicht mehr bzw. so wenig wütend, dass ich auch nicht verstehen konnte, wenn andere wütend werden konnten. Ich erinnere mich da gareade an Margret, die mir in einer der ersten PNs geschrieben hatte, dass sie meinem Mann eines mit der Bratpfanne über den Schädel ziehen würde, wenn sie ich wäre. Ich hab gelernt gestern, dass beides normale Reaktionen wären, also sowohl die Bratpfannen-Methode als auch mein "todstellen und nicht wahrnehmen" sozusagen. Es gibt da auch kein richtig und kein falsch. Aber es ist wohl doch so, dass es auch Wut braucht, um es zu verarbeiten, und ich fang gerade erst an, mal wütend zu werden. Was mich allerdings jetzt zugegeben durch die Zeitverzögerung vor neue Herausforderungen stellt, da wir ja noch zusammen wohnen. Die gäbe es nicht, wenn ich immer gleich wütend gewesen wäre. Und jetzt fällt es mir schwer, meinem Ex-Mann, der gerade gestern bspw. sagte, dass er mir helfen will, zu zeigen, dass ich wütend auf ihn bin. Ich fange also schon wieder an, meine gerade eben aufgekeimte Wut auf ihn zu unterdrücken, weil ich denke, dass ich ihn ja unmöglich damit konfrontieren kann, wo er doch jetzt ruhig und scheinbar kooperativ ist. Ich habs also nur zu einem kleinlauten "Du kannst mir da nicht helfen, weil Du Teil des Problems bist." gebracht, was mich schon alleine unendlich Überwindung gekostet hat. Also hab ich die Wut mal wieder weggedrückt, es hat mich heut Nacht beschäftigt und irgendwann bin ich aufgestanden und hab diesen Thread hier eröffnet. Danach erst konnte ich kurzzeitig wirklich mal etwas tiefer schlafen.
Und jetzt, wo ich das alles geschrieben habe, fühl ich mich schon wieder ausgelaugt und brauch ne Pause. Aber trotzdem freu ich mich und hoffe auf Kommentare. Ich lese/schreibe/antworte dann immer so wie ich kann.
Danke und liebe Grüße
Lilia