Schicksal

Dabei
3 Jun 2013
Beiträge
241
#1
Und wieder starre ich mit leerem Blick auf das Chatfenster. Und wieder blinzelt die falsche
Hoffnung aus meinem Herzen hervor, just in diesem Moment könnte es das Schicksal ja gut
mit mir meinen und diese zwei lang ersehnten Wörter erscheinen lassen: „M. schreibt…“.
Doch wieder tut sie es nicht. Erneut kriecht die Hoffnung zurück und wird ein weiteres Mal
kleiner. Und erneut kommt dieses ungute Gefühl der Machtlosigkeit in mir auf und baut sich
vor meinem Inneren wie eine Absperrung auf, die jegliche Möglichkeit des Durchdringens
zunichte macht. Ein letztes Mal will ich auf ihr Profilbild schauen, schwörend, es danach
nie wieder anzusehen. Es ist eines der unzähligen letzten Male, die keinen Abschluss zulassen
können.

Mit den Fingern verdecke ich Mund und Nase, nur noch ihre Augen schauen in die meinen
und sie funkeln genauso, wie ich es in Erinnerung habe. Nehme ich dagegen die Finger weg,
schaut mich eine fremd wirkende junge Frau an. Und ich frage mich, ob sie sich in dem
letzten Jahr verändert hat, oder ob ich mich verändert habe. Dann gibt mir mein Finger die
alte Vertrautheit zurück.

Ich schalte das Telefon aus, lege es beiseite, schaue nach ihm und lege es ein Stückchen
weiter weg.

Draußen weht ein leichter Wind, von drinnen hört man ihn nicht. Draußen scheint die Sonne,
doch drinnen ist es schattig. Meine Blicke verlieren sich in saftigem Grün, im Pulsieren der
Baumkronen und ich frage mich, wie es wäre, wenn wir uns noch einmal treffen könnten.
Was würde ich sagen, was würde sie sagen? Würden wir schweigen? Und ich denke daran,
wie es war, in ihre Augen zu sehen. Würde ich mich noch einmal verlieren können, auch ohne
sie zu verdecken?

Ein Gefühl von früher erschleicht sich den Weg zu mir, aber ich verdränge es.

Alles würde anders sein, wenn wir uns nur noch einmal treffen würden! Alles wäre so viel klarer!
Und ich sehe sie vor mir mit wehendem Haar und einem zögerndem Lächeln. Als würde sie
sagen: ich weiß, was du denkst. Und sie würde auf mich zugehen und meine Hände fassen.
Ihre Finger wären feucht und kalt und sanft und klein. Behutsam würde sie meine Hände fassen
und zu mir aufblicken, mit einem Blick der Geborgenheit. Umarmen würde sie mich und ich würde
meinen Kopf auf ihre Schultern legen. Eng umklammert, zur Einheit verschmolzen.

Kein Wort würden wir sprechen, denn wir würden es besser wissen. Dieses eine Mal wäre alles
anders. Diesem einen Mal würden keine schlechten Gefühle folgen.

Und schließlich würden wir uns lösen, aber nicht loslassen. Wir würden uns umdrehen, aber nicht
aus den Augen verlieren. Wir würden Tränen weinen, aber nicht aus Trauer. Und wir würden uns
verzeihen, aber nicht vergessen.

Und erneut starre ich mit einem Lächeln auf das Chatfenster. Und höher schlägt das Herz vor
Hoffnung, die Bestimmung würde jeden Moment eintreffen und mir die ersehnten zwei Worte
erscheinen lassen: „M. schreibt…“.
Doch sie tut es nicht, denn nichts hat sich geändert.
 
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Dabei
27 Mrz 2012
Beiträge
5.570
#2
Ein schönes Gedicht. Lässt sich wirklich gut lesen und reinfühlen.

Ich war nur mit dem Absatz "Mit den Fingern verdecke ich..." etwas verwirrt. Das hatte ich nicht sofort verstanden und warf mich deswegen etwas aus der Bahn.

Diesen Abschnitt mag ich besonders:
Und schließlich würden wir uns lösen, aber nicht loslassen. Wir würden uns umdrehen, aber nicht
aus den Augen verlieren. Wir würden Tränen weinen, aber nicht aus Trauer. Und wir würden uns
verzeihen, aber nicht vergessen.

Dein Ende knüpft wieder schön an den Anfang an und rundet das Gedicht ab. Gut gelungen!
 
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